Interview mit Paolo Nattenmüller, CPO wohnvoll AG

Paolo, Du bist Chief Product Officer bei der wohnvoll AG, was sind deine Hauptaufgaben?
Ich bin für die digitalen Produkte verantwortlich, aber auch dafür, dass die linke Hand mit der rechten spricht. Wenn man sich bereits bestehende Projekte anschaut, sieht man häufig, dass die Vorstellungen von Projektentwickler und Betreiber unterschiedlich waren. Die Architektur entspricht nicht dem, was der Betreiber braucht, es gibt womöglich Räume, die gar nicht nutzbar sind. Ich sehe es als meine Aufgabe an, für ein vernetztes Arbeiten zu sorgen und die Verantwortlichen für die Architektur, Innenarchitektur, die Pflege, den Gastronomiebereich und die digitale Entwicklung an einen Tisch zu bringen, damit unser Produkt von Anfang bis Ende aus einem Guss gestaltet ist.
Sie haben mehr als zehn Jahre Erfahrung in der Produktentwicklung und der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen mitgebracht. Was haben Sie vorher konkret gemacht?
Ich habe sechs Jahre in den USA verbracht, dort studiert und im Silicon Valley bei diversen Start-ups gearbeitet. Ich habe ein eigenes Start-up im Digitalbereich aufgebaut und es verkauft. Zurück in Berlin, habe ich für BCG Digital Ventures ganz unterschiedliche neue Produkte entwickelt und die entsprechenden Start-ups aufgebaut, von der weltgrößten Datenbank für Materialdaten bis hin zu einer Möglichkeit für Laborwissenschaftler, ihre Versuche per Knopf im Ohr zeitgleich zu dokumentieren und sie damit leichter reproduzierbar zu machen.
Wie kamen Sie von der Arbeit an solchen Produkten zur wohnvoll AG?
Bei BCG habe ich Anthony Herzogenberg kennengelernt und wir haben uns gemeinsam mit dem Thema der alternden Gesellschaft beschäftigt, mit dem sich unserer Ansicht nach viel zu wenige Leute auseinandersetzen. Und das, obwohl der Mangel an barrierefreien Wohnungen und das Entwickeln neuer Lebenskonzepte für die jetzt älter werdende Generation der Babyboomer eine große gesellschaftliche Herausforderung ist. Letztere wollen zum Beispiel nicht jeden Tag pünklich um 12 Uhr Mittagessen und legen viel Wert auf eine gesunde Ernährung. Nach und nach haben wir ein modernes Betreiberkonzept entwickelt und durch die Digitalisierung viele neue Möglichkeiten geschaffen, um kein Seniorenwohnen nach Schema F zu bieten, sondern viel Flexibilität. Wir wollen älteren Menschen die Angst vor Vereinsamung und Pflegebedürftigkeit im Alter nehmen. Die neuen Technologien machen es außerdem möglich, dass wir ein bis dato sehr teures betreutes Wohnen auch für Menschen mit unteren bis mittlere Einkommen anbieten können.
Das wohnvoll-Konzept beinhaltet, dass die Bewohner sich untereinander und auch mit den Angehörigen per App vernetzen können. Wieso ist Ihnen die Digitalisierung gerade bei Wohnungen für ältere Menschen so wichtig?
Wir haben in umfangreichen Nutzerrecherchen herausgefunden, dass die Menschen, die heute in Senioreneinrichtungen wohnen, oftmals gar nicht wissen, was im Haus passiert. Und dass sie schon gar kein Feedback geben können, wenn sie vielleicht keinen Bingoabend, sondern lieber einen Yoga-Kurs besuchen würden. Im wohnvoll-village sollen die Bewohner einen öffentlichen Kalender in ihrer App haben, in dem alle Angebote verzeichnet sind, sie sich mit einem Handgriff anmelden und Feedback geben können. Es gibt auch einen Überblick, was es an dem Tag im Restaurant zu essen gibt, sie können das Menü sogar vorbestellen. Auch neue Bewohner können sich dort per App vorstellen, damit sie gleich ansprechbar sind.
Es geht aber nicht darum, dass die Bewohner nur noch per App kommunizieren, oder?
Nein, natürlich nicht. Wir wollen die persönliche Interaktion zwischen den Bewohnern durch die Apps fördern und eine lebendige Hausgemeinschaft schaffen. Das sieht dann so aus, dass ich ein Weihnachtsessen organisieren kann, und das hängt dann nicht am Schwarzen Brett, sondern ich lade die Teilnehmer über die App ein und weiß auch gleich, ob sie kommen wollen. Oder ich verabrede mich, ein gemeinsames Taxi in die Stadt zu nehmen, oder suche andere Teilnehmer für einen Yoga-Kurs, den ich gerne installieren möchte. Für all das kann die Plattform genutzt werden. Ich kann sogar, wenn ich gerade irgendwo gemütlich zusammensitze, jemanden spontan per Push-Nachricht dazu einladen. Unsere Nutzerrecherche hat auch gezeigt, dass ältere Menschen gerne kochen, aber nicht jeden Tag für sich allein. Mit der App ist es leicht, sich zu Kochrunden zusammenzufinden.
Was kann die App noch?
Wir wollen in unseren wohnvoll-villages viele Dienstleistungen anbieten, die ebenfalls mit wenigen Handgriffen über die App gebucht werden können. Das kann ein Hausmeisterservice sein, ein Wäscheservice oder Hilfe bei technischen Fragen zum Handy oder zum Fernseher. Wir planen auch ein Shopping-Feature. Aus den Umfragen haben wir eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Die Leute mögen es einzukaufen, um auch mal rauszukommen. Aber schwere Dinge wie Wasserkästen, andere Getränke oder Mehl müssen sie nicht selbst tragen. Die können wir über einen Shop in der App anbieten und direkt liefern.
Sie wollen auch das japanische Konzept des «Ikigai», das man mit Lebenssinn übersetzen könnte, in Ihren Angeboten aufgreifen. Was steckt dahinter?
Damit ist gemeint, dass man als Mensch eine Aufgabe braucht, etwas, weshalb man morgens aufsteht. Das kann für unsere Bewohner ein Gemüsegarten sein, den sie pflegen können, oder sie unterstützen andere Bewohner, die nicht mehr alles allein können. Für solche Aufgaben lassen sich in der App die richtigen Bewohner finden und man kann das auch fördern, indem man solche Leistungen öffentlich anerkennt und die Leute in der App vorstellt. Ein zentraler Punkt ist dabei die Nachbarschaftshilfe. Eine Bewohnerin, die lange Jahre Lehrerin war, würde vielleicht gerne einem Nachbarskind Nachhilfe geben. Oder ein Nachbar sucht jemanden, der ab und zu mit seinem Hund rausgeht. Das heißt, wir wollen uns mit den digitalen Möglichkeiten auch nach außen öffnen. Das wohnvoll-village soll kein Fremdkörper im Stadtteil sein. Die Nachbarn sollen Einblick haben in die Aktivitäten im Village, damit ein lebendiges Miteinander entsteht.
Ihre Zielgruppe sind damit ganz klar die Babyboomer, oder?
Ja, all das wäre vor fünf Jahren noch keine gute Idee gewesen. Diese Generation hat die Technologie in ihrem Arbeitsalltag erlebt. Sie läuft mit einer Apple-Watch herum, nutzt Schrittzähler oder sogar Alexa oder Siri zum Eierkochen. Ihr Anteil an den Senioren steigt kontinuierlich. Wir setzten mit unserem Konzept also auf die Bewohnerschaft von morgen.